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Das Jellinek-Schema
Die Kritische Phase (C.)
Der Übergang von der Anfangs- in die kritischen Phase wird durch das Auftreten erster Kontrollverluste markiert. Mit dem Kontrollverlust erreicht die prozeßhafte Entwicklung der Abhängigkeit das Stadium, ab dem man im engeren Sinne von einer Erkrankung sprechen kann. Auch der Kontrollverlust selbst, hinter dem es dann langfristig kein zurück mehr gibt, zeigt alle Eigenschaften prozeßhaften Anwachsens: Vom sich erstmals abzeichnenden, immer häufigeren Überschreitens selbst gesetzter, Einnahmemenge betreffender Grenzen, bis zu völlig haltloser massiver Weitereinnahme des Suchtmittels trotz deutlich absehbarer, erheblicher negativer Konsequenzen (wie in Pkt. 40 der chronischen Phase beschrieben). Dieses prozeßhafte Anwachsen des Symptombildes des Kontrollverlustes geht in aller Regel damit einher, daß die Entwicklung der psychischen Abhängigkeit seit der Vorphase zu einem als immer übermächtiger empfundenen Verlangen nach der Wirkung des Suchtmittels. Dieses zunehmende Verlangen schränkt die Entscheidungsfreiheit des Abhängigen, ob er nun mit der Einnahme beginnt oder nicht, bereits im Vorfeld des Kontrollverlustes, also bevor er überhaupt mit dem Trinken beginnt, immer mehr ein. Ein Widerstehen gegenüber solchen intensiver werdenden Wünschen nach Einnahme des Suchtmittels wird zunehmend schwieriger und anstrengender. Das Auftreten von Kontrollverlusten führt im weiteren Verlauf der kritischen Phase fast zwangsläufig zu den dort weiter beschriebenen Symptomen. Hier zeigen sich zum einen soziale Belastungen in Form von Vorwürfen und Kritik aus dem sozialen Umfeld, zum anderen Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen. Auch erste körperliche Beschwerden können auftreten. Meist gelingt es dem Suchtmittelabhängigen in dieser Phase jedoch noch, solche negativen Konsequenzen abzuwenden, die von ihm als besonders schwerwiegend erlebt werden. Am Ende der kritischen Phase jedoch gibt es kaum noch einen Bereich im Leben des Betroffenen (Familie, Freunde, Arbeit, Urlaub etc.), in dem sich die Suchterkrankung noch nicht in irgend einer Form ausgewirkt hat.
8. Kontrollverlust
Unter Kontrollverlust wird im allgemeinen der fortschreitende Verlust der willentlichen Kontrolle über die Trinkmenge verstanden. Dies zeigt sich konkret darin, daß der Betroffene, nachdem er eine kleine Menge Alkohol zu sich genommen hat, mit zunehmender Häufigkeit mehr trinkt, als er sich vorgenommen hatte, bzw. mehr, als in der jeweiligen konkreten Situation angemessen ist. Während zu Beginn der kritischen Phase derartige Kontrollverluste gelegentlich noch durch eigenes „Pflichtgefühl" oder Einschreiten dritter Personen eindämmbar sind, wird dies mit zunehmender Ausprägung der Suchterkrankung immer schwieriger oder schließlich ganz und gar unmöglich. Der Kontrollverlust im eigentlichen Sinne bedeutet jedoch nicht, daß der Betroffene ständig trinken muß, auch für den Abhängigen ist es möglich, phasenweise gar nicht oder wenig zu trinken. Jedoch kommt es durch das Trinken mittel- oder langfristig immer wieder zu Kontrollverlusten. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage erhoben, warum der Betroffene nach seinen verhängnisvollen Erfahrungen anläßlich seiner wiederholten Kontrollverlusterlebnisse denn dann trotzdem immer wieder anfängt zu trinken. Er ist in diesem Stadium bereits psychisch von der Alkoholwirkung abhängig geworden, wenn es ihm auch noch nicht bewußt ist. Sein Wille in Verbindung mit Alkohol ist mindestens beeinträchtigt, er selbst jedoch glaubt, daß er seine diesbezügliche Willenskraft nur vorübergehend verloren hat und sie daher wiedererlangen kann und muß. Er ist sich jedoch darüber nicht im klaren, daß er bereits alkoholkrank geworden ist und es ihm somit unmöglich ist, seinen Alkoholkonsum über längere Zeiträume hinweg einzuschränken oder zu kontrollieren.
9. Erklärungen, warum man so trinke (Ausreden, Alibis)
Mit dem Einsetzen von Kontrollverlusten erlebt das Trinken des Alkoholikers eine erneute Steigerung. Nicht selten führt dies zu heftiger Selbstkritik und/oder Kritik von anderen. Da der Alkoholiker zu diesem Zeitpunkt jedoch im allgemeinen noch nicht bereit ist, sein Trinken aufzugeben, empfindet er einen Rechtfertigungszwang, aus dem heraus er sich unbewußt ein Erklärsystem aufbaut, d.h. er redet sich ein, daß er einen guten Grund zum Trinken gehabt habe und ohne diesen Grund genau so mäßig wie alle anderen trinken könne. Diese Trinkalibis führen im weiteren Verlauf dazu, daß der Alkoholiker sich zwar durch vielerlei Probleme belastet sieht, sein Trinkverhalten jedoch lange Zeit nicht als Problem erkennen kann. Solchen Trinkalibis können durchaus reale und massive Probleme zugrunde liegen, die vom Betroffenen dann manchmal unbewußt aufrechterhalten oder herbeigeführt werden, um sich selbst eine Erlaubnis zum Trinken zu geben und/oder eine Auseinandersetzung mit dem Trinkverhalten zu vermeiden. Aus alledem wird ersichtlich, daß Erklärsysteme einen deutlich suchtaufrechterhaltenden Charakter haben.
10. Reaktionen der Umwelt
Infolge der zahlreicher und massiver werdenden Kontrollverluste wird das soziale Umfeld des Alkoholikers zunehmend auf sein Trinkverhalten aufmerksam. Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen und/oder Vorgesetzte sprechen ihn auf seine „Fahne" oder andere Auffälligkeiten an, warnen und kritisieren ihn oder machen ihm sein Trinkverhalten zum Vowurf. Gegen diese Reaktionen der Umwelt verteidigt sich der Betroffene oft mit Hilfe seines Erklärsystems, das sich dadurch weiter verfestigt. Gleichzeitig bemüht er sich daraufhin, sein Trinken noch besser zu verbergen.
11. Kompensation des Verlustes an Selbstachtung
Zunehmende Kontrollverluste und damit im Zusammenhang stehende Mißerfolgserlebnisse sowie die Kritik der Umwelt führen beim Alkoholiker zu einem schleichenden Verlust an Selbstachtung. Um diesen Verlust an Selbstakzeptanz zu kompensieren (ihm entgegen zu wirken) bzw. ihn nach außen nicht sichtbar werden zu lassen, stellt der Betroffene für sich und andere vor allem die Dinge und Bereiche positiv heraus, in denen er noch gut funktioniert. Oft stachelt er sich in diesem Zusammenhang zu besonderen Leistungen an, um sich und anderen zu zeigen, daß er durch sein Trinken in keinster Weise oder höchstens in unwesentlichen Bereichen, beeinträchtigt sei. Manchmal findet dieses Verhalten auch seinen Ausdruck in besonderer Extravaganz und Großspurigkeit, wodurch der Alkoholiker sich selbst und vor allem andere davon zu überzeugen versucht, daß er noch nicht so schlecht dran sei, wie er manchmal denkt oder wie es nach außen hin aussehen mag.
12. Auffällig aggressives Benehmen
Aufgrund seiner schwindenden Selbstachtung, der zunehmenden Kritik von anderen und dadurch, daß er mit seinem Erklärsystem immer weniger überzeugen kann, legt der Alkoholiker ein im Vergleich zu vorher ungewohnt aktiv oder passiv aggressives Verhalten an den Tag. Aktiv weist er z. B. wohlmeinende Ansprachen barsch zurück, schlägt in Auseinandersetzungen verbal rücksichtslos um sich oder wird sogar handgreiflich. Passiv stellt er die Kommunikation, insbesondere in der Familie mit ihm wohlmeinenden Personen ganz ein oder gestaltet sie auffallend einsilbig. In Verbindung damit erlebt sich der Alkoholiker manchmal auch in einer Opferrolle, wobei er seiner Umwelt die Schuld für sein Verhalten und die daraus entstandenen Schwierigkeiten zuschiebt.
13. Dauerndes Schuldgefühl als Anlaß zum erneuten Trinken
Das in den Punkten 8 bis 12 beschriebene Verhalten führt trotz aller Abwehrbemühungen des Alkoholikers zu immer bedrückenderen Schuldgefühlen, die der Betroffene dann häufig durch erneutes Trinken zu beseitigen versucht (Teufelskreis).
14. Zeiträume völliger Abstinenz
Infolge der häufig abschreckenden Kontrollverlusterfahrungen und oft auch des zunehmenden sozialen Druckes aus der Umwelt gelingt es dem Alkoholiker nicht selten, längere oder kürzere Zeiträume völliger Alkoholabstinenz einzuhalten, die er fälschlicherweise als Beweis dafür nimmt, daß er sein Trinken wieder „im Griff" habe und daher auch wieder kontrolliert trinken könne.
( Fortsetzung )
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